Felix Hausdorff (1862--1942) gehört zu den herausragenden Mathematikern der ersten Hälfte des 20.Jahrhunderts. Er begründete die mengentheoretische Topologie als eigenständige, für die moderne Mathematik grundlegende Disziplin, und leistete bedeutende Beiträge zur allgemeinen und deskriptiven Mengenlehre, Maßtheorie, Funktionalanalysis und zur Theorie der Lie-Algebren. Auch seine Beiträge zur Versicherungsmathematik und Wahrscheinlichkeitstheorie haben Spuren hinterlassen.
Unter dem Pseudonym Paul Mongré veröffentlichte Hausdorff einen Aphorismenband, ein Werk zur Erkenntniskritik, einen Band Gedichte und zahlreiche Essays in führenden literarischen Zeitschriften. Sein Theaterstück "Der Arzt seiner Ehre",erlebte mehr als 300 Aufführungen in mehr als 30 Städten. Felix Hausdorff war als Paul Mongré eine ganz einmalige Erscheinung unter den Mathematikern und eine sehr interessante Figur in der von Nietzsche beeinflußten philosophisch-literarischen Szene um die Jahrhundertwende.
Als akademischer Lehrer wirkte Hausdorff sehr erfolgreich an den Universitäten Leipzig, Greifswald und Bonn. Wegen seiner jüdischen Herkunft wurde er unter der nationalsozialistischen Diktatur zunehmend verfolgt und gedemütigt. Als die Verschleppung in ein Konzentrationslager unmittelbar bevorstand, wählten er und seine Frau den Freitod.
Hausdorffs umfangreicher Nachlaß (etwa 26.000 Blatt) ist dank eines Freundes, des Ägyptologen Hans Bonnet, gerettet worden. Er besteht vor allem aus mathematischen Manuskripten und befindet sich heute in der Handschriftenabteilung der Universitäts- und Landesbibliothek Bonn.
Die Edition
Am 26.Januar 1992 jährte sich Hausdorffs Todestag zum 50. Male. Aus diesem Anlaß richtete Egbert Brieskorn ein Gedenkkolloquium am Mathematischen Institut aus und gestaltete gemeinsam mit seinen Mitarbeitern eine Ausstellung "Felix Hausdorff -- Paul Mongré". Im Vorfeld des Gedenkkolloquiums fand am 22.Mai 1991 am Mathematischen Institut in Bonn eine Beratung über Möglichkeiten und notwendige Schritte, eine Edition der Werke Felix Hausdorffs in die Wege zu leiten, statt. Daran nahmen die Bonner Professoren Egbert Brieskorn, Stefan Hildebrandt und Friedrich Hirzebruch sowie die Mathematikhistoriker Günter Bergmann (Münster), Emil Fellmann (Basel), Erhard Scholz (Wuppertal) und Christoph Scriba (Hamburg) teil. Als erster Schritt wurde eine sorgfältige inhaltliche Erschließung des Nachlasses ins Auge gefaßt. Als zweiter Schritt sollte dann die Edition in Angriff genommen werden. Auf Vorschlag von F.Hirzebruch wurde an der Nordrhein-Westfälischen Akademie der Wissenschaften, die bereits langjährige Erfahrungen mit Editionsprojekten hatte, eine Kommission ins Leben gerufen, die die Ziele der Edition debattieren und festlegen, geeignete Mitarbeiter gewinnen und sich um die Finanzierungsmöglichkeiten kümmern sollte. Ihr gehörten die Akademiemitglieder F.Hirzebruch, Bernhard Korte (Bonn), Claus Müller (Aachen), Reinhold Remmert (Münster) und die Professoren E.Brieskorn und E.Scholz an; zum Vorsitzenden wurde R.Remmert gewählt. Der Antrag an die DFG, Mittel für die Erschließung des Nachlasses von Hausdorff bereitzustellen, wurde 1993 genehmigt. Im Zeitraum von November 1993 bis Ende 1995 führte Walter Purkert diese Arbeiten durch; es entstand ein Findbuch von 550 Seiten Umfang, welches auch elektronisch zur Verfügung steht.
Nach und nach kristallisierten sich in zahlreichen Diskussionen der Kommissionsmitglieder und interessierter Kollegen die folgenden Editionsprinzipien heraus: In der Hausdorff-Ausgabe werden alle publizierten astronomischen und mathematischen Arbeiten einschließlich der Bücher Grundzüge der Mengenlehre (1914) und Mengenlehre (1927) und einschließlich aller von Hausdorff verfaßten Rezensionen aufgenommen. Das Gleiche gilt für die unter dem Pseudonym Paul Mongré veröffentlichten philosophischen und literarischen Schriften. Hinzu kommen ausgewählte Vorlesungen und andere Manuskripte aus dem Nachlaß sowie alle bisher aufgefundenen Briefe von und an Hausdorff. Die einzelnen Bände sind thematisch gegliedert.
Alle astronomischen und mathematischen Arbeiten werden kommentiert. Der Kommentar zu einer Arbeit soll zunächst die historische Situation skizzieren, in der die Arbeit entstanden ist. Er soll dann Hausdorffs Beitrag im Rahmen der zeitgenössischen Entwicklung kurz darstellen und bewerten und schließlich einen Ausblick auf die Wirkungsgeschichte geben. Natürlich gab es dabei für die Editoren einen gewissen Spielraum der Gewichtung. Auch das philosophisch-literarische Werk wird durch historische Einführungen und sorgfältige Zeilenkommentare erschlossen. Ferner sollte im Rahmen der Edition eine Biographie Hausdorffs erarbeitet werden.
In vielen Editionen werden Bücher nicht in die gesammelten Werke eines Autors aufgenommen. Für die Hausdorff-Edition haben wir uns entschlossen, alle Bücher aufzunehmen. Für den Aphorismenband Sant' Ilario -- Gedanken aus der Landschaft Zarathustras (1897), das erkenntniskritische Buch Das Chaos in kosmischer Auslese (1898) und den Gedichtband Ekstasen (1900) war dies neben anderen gewichtigen Gründen schon deshalb angezeigt, weil diese Werke sehr selten geworden sind und wieder leicht zugänglich gemacht werden sollten. Bei den zwei mathematischen Büchern ist die Situation anders; sie sind, zumindest in Nachdrucken, in jeder mathematischen Bibliothek vorhanden. Sie nehmen jedoch in Hausdorffs Schaffen einen herausragenden Platz ein und waren von so großem Einfluss, dass eine Hausdorff-Edition ohne diese Bücher und ihre sehr umfangreiche Kommentierung im Hinblick auf sein Gesamtschaffen ein Torso geblieben wäre.
Es war von vornherein klar, dass nur eine Auswahl aus dem Nachlass publiziert werden kann. Jeder Editor erhielt das Findbuch und Kopien der sein Gebiet betreffenden oder zumindest tangierenden Schriftstücke aus dem Nachlass; dabei war gewährleistet, dass kein Manuskript ungeprüft blieb. Es wurden dann jeweils Texte zum Abdruck ausgewählt, die nach Meinung der Editoren ein besonderes historisches Interesse beanspruchen können oder aus heutiger Sicht noch interessante Anregungen enthalten. Auch solche Faszikel, die Hausdorff selbst als Ergänzung zu publizierten Arbeiten gekennzeichnet hat, und solche, die er für eine Publikation vorgesehen hatte, deren Veröffentlichung dann aber doch unterblieben ist, werden abgedruckt. Insgesamt beansprucht der Nachlass einschließlich Kommentaren etwa 1.500 Druckseiten der Gesamtedition; darunter befinden sich auch vier Vorlesungen Hausdorffs, die historisch besonders interessant sind.
Im Jahre 1995 hat die Akademie-Kommission die Arbeitsstruktur des Vorhabens in Umrissen fixiert: Die Kommission sollte die Verantwortung für den Charakter des Editionsvorhabens als Ganzes haben. Die Arbeit der Band-Editoren, d.h. der Mitarbeiter an den einzelnen Bänden, solte durch eine am Mathematischen Institut eingerichtete Arbeitsstelle, an der ein wissenschaftlicher Koordinator hauptamtlich tätig sein sollte, permanent betreut und koordiniert werden. Außerdem sollte eine Kerngruppe, bestehend aus dem Koordinator und vier Kommissionsmitgliedern, die Prinzipien der Edition weiterentwickeln, regelmäßig die Arbeit der Editoren unterstützen und kritisch begleiten und die Kohärenz des interdisziplinären Vorhabens sicherstellen. Diese Gruppe (E.Brieskorn, F.Hirzebruch, W.Purkert, R.Remmert, E.Scholz) erscheint in den publizierten Bänden als für die gesamte Edition verantwortlich.
Am 2.November 1996 nahm nach Genehmigung der finanziellen Mittel durch die DFG die Arbeitsstelle "Hausdorff-Edition", am Mathematischen Institut der Universität Bonn die Arbeit auf. Leiter der Arbeitsstelle und Verantwortlicher gegenüber der DFG wurde E.Brieskorn. Es war vorgesehen, einen erfahrenen Mathematikhistoriker und guten Kenner des Hausdorffschen Nachlasses als wissenschaftliche Koordinator zu gewinnen; diese Aufgabe übernahm W.Purkert. Er hat sich in der Folgezeit eine Reihe von Jahren ganz der Arbeit an der Edition gewidmet und hat damit wesentlichen Anteil am Entstehen dieses umfangreichen Werkes.
Im Laufe der Zeit haben an der Edition insgesamt vierzehn Mathematiker, vier Mathematikhistoriker, zwei Literaturwissenschaftler, ein Astronom und ein Philosoph mitgearbeitet. Auf einer Reihe von Editorenkonferenzen wurde das Herangehen, die interdisziplinäre Zusammenarbeit sowie erarbeitete Beiträge diskutiert und gegebenenfalls ihre Überarbeitung angeregt. Als erster Band der Edition erschien im Juni 2001 der Band IV "Analysis, Algebra und Zahlentheorie". R.Remmert hatte es erreicht, daß die Akademie sich einverstanden erklärte, die Bände nicht im Eigenverlag, sondern bei Springer erscheinen zu lassen und dafür einen beträchtlichen Druckkostenzuschuß zu gewähren.
Ab Jahresbeginn 2002 übernahm die Nordrhein-Westfälische Akademie der Wissenschaften und der Künste auf Vorschlag der Akademiemitglieder in der Hausdorff-Kommission die Förderung der Edition im Rahmen des Akademienprogramms. Mit der Sicherung einer langfristigen Förderung konnte nun auch ein Band "Korrespondenz", geplant und die Arbeit an den begonnenen Bänden fortgesetzt werden. 2004 wurde das Vorhaben durch ein Internationales Gutachtergremium evaluiert, welches die Fortsetzung der Förderung durch die Akademie empfahl. Die Leitung der Hausdorff-Kommission übernahm auf Wunsch des bisherigen Leiters ab 2006 F.Hirzebruch. Die finanzielle Förderung durch die Akademie endete planmäßig am 31.12.2011. Die restlichen Arbeiten werden ehrenamtlich zu Ende geführt.
Es wurde im Laufe der Zeit stets an mehreren Bänden parallel gearbeitet. Für die endgültige Fertigstellung, die auch die endgültige technische Fertigstellung bis zur Druckreife einschloß, mußte sich die Arbeitsstelle stets auf einen Band konzentrieren. Die Bände erschienen in folgender Reihenfolge: IV (2001), II (2002), VII (2004), V (2006), III (2008), VIII (2010), IA (2013). Der Band VI "Geometrie, Raum und Zeit" wird 2020 erscheinen.Eine Besonderheit sind die Bände IX "Korrespondenz" und IB "Biographie". E.Brieskorn hatte es von Anfang an als seine Aufgabe angesehen, eine Biographie Hausdorffs zu schreiben. Mit Beginn der Edition war vorgesehen, sie im Rahmen der Edition erscheinen zu lassen. Brieskorn hat seit etwa 1989 in oft sehr mühevoller Kleinarbeit eine außergewöhnliche Fülle von Material zu Hausdorffs Leben und Werk zusammengetragen. Hier waren -- für einen Mathematiker völlig ungewöhnlich -- neben der mathematischen Arbeit Hausdorffs auch weite Felder seiner Interessen und lebensweltlichen Bezüge aus sehr verschiedenen Bereichen zu berücksichtigen: Philosophie (vor allem Kant, Schopenhauer und Nietzsche, Nietzsche-Archiv), Erkenntniskritik (Raum und Zeit, Sprachkritik), Literatur (Essays, Poesie, Theater, Beziehungen zu Literaten wie Hartleben, Dehmel, Wedekind), Musik (Wagner, Reger), Bildende Kunst (Beziehungen zu Klinger), jüdische Geschichte und Familiengeschichte (Abstammung, Firmen der Familie, Wirken des Vaters im Deutsch-Israelitischen Gemeindebund, Wissenschaft des Judentums), Geschichte des Antisemitismus (mit Bezügen zur Lebensgeschichte). Als er mit der Niederschrift, die im wesentlichen chronologisch angelegt war, etwa im Jahre 1904 angelangt war, nahm ihm der Tod die Feder aus der Hand. W.Purkert hat die Biographie in fünfjähriger Arbeit zu Ende geführt. Dabei war ihm Egbert Brieskorns Nachlaß, den ihm Frau Brieskorn zur Verfügung stellte, eine große Hilfe. Der Band ist 2018 erschienen (siehe unten die Links zum Vorwort und zum Inhaltsverzeichnis). E.Brieskorn hatte auch seit Beginn der Arbeiten an der Biographie eine stattliche Anzahl Briefe Hausdorffs in Archiven und bei Privatpersonen ausfindig gemacht und Kopien besorgt. Seit 2002 fand W.Purkert weitere, z.T. sehr aufschlußreiche Briefe. So konnte über die Jahre am Korrespondenzband gearbeitet werden, der alle diese Briefe sowie die Briefe aus dem Hausdorff-Nachlaß mit ausführlichen Kommentaren enthält; der Band ist 2012 erschienen.
Im Zusammenhang mit der Arbeit an den einzelnen Bänden entstanden auch eine Reihe von Veröffentlichungen in Zeitschriften und Sammelbänden, die Themen aus Hausdorffs Leben und Werk bearbeiten oder sein wissenschaftliches und kulturelles Umfeld beleuchten. In diesem Zusammenhang ist insbesondere die Ausstellung "Jüudische Mathematiker in der deutschsprachigen akademischen Kultur" zu nennen, die unter Leitung von Moritz Epple, dem Herausgeber von Band VI der Edition, entstand und an der W.Purkert, E.Scholz und weitere Mathematikhistoriker maßgeblich beteiligt waren. Sie war 2006 erstmals in Bonn anlässlich der Jahrestagung der Deutschen Mathematiker-Vereinigung zu sehen und wurde später, zu einer Wanderausstellung umgestaltet, in zahlreichen deutschen Städten und in einer verbesserten und erweiterten englischsprachigen Version in Israel (Tel-Aviv, Haifa und Jerusalem), in den USA (Chicago, New York) und in Australien (Sidney) gezeigt, ferner 2016 im Jüdischen Museum in Berlin anlässlich des Europäischen Mathematiker-Kongresses. Ein umfangreicher Katalog in deutscher bzw. ein erweiterter und überarbeiteter Katalog in englischer Sprache sind bei Springer erschienen (s. die Fotos am Ende).