Ausgezeichnet wurde die Arbeit "Data Driven Problems in Elasticity" in der Zeitschrift Archive for Rational Mechanics and Analysis, in der Problemstellungen an der Schnittstelle von Mechanik und angewandter Mathematik betrachtet werden, speziell im Bereich der Elastizität von Materialien. Insbesondere werden hier neuartige, sogenannte datengetriebene Ansätze genauer untersucht. Bislang bestand das vorherrschende und klassische wissenschaftliche Paradigma in der Materialwissenschaft darin, empirische Materialmodelle anhand von wenigen empirisch beobachteten Daten zu kalibrieren und dann die angepassten Materialmodelle für weitergehende Untersuchungen und Simulationen zu verwenden. Dieser Modellierungsprozess führt unweigerlich zu Fehlern und Unsicherheiten bei den Lösungen, insbesondere bei Systemen mit hochdimensionalen Phasenräumen und komplexem Materialverhalten. Bemerkenswerte Fortschritte in der experimentellen Wissenschaften – wie zum Beispiel in der digitalen Bildgebung und Mikroskopie – erlauben die Erhebung von immer mehr Materialdaten auf unterschiedlichen Skalen und haben somit das Wesen der Materialwissenschaft radikal verändert. Die Fülle an Daten legt die Möglichkeit eines neuen, datengetriebenen wissenschaftlichen Ansatzes nahe. Das neue Paradigma besteht darin, die klassischen Probleme direkt aus den Materialdaten zu formulieren und so den Schritt der empirischen Modellierung zu umgehen.
Für Stefan Müller hat die Auszeichnung einen besonderen Wert, denn der Namensgeber des Preises hatte enormen Einfluss auf sein eigenes Forschungsprogramm. "Für mein Arbeitsgebiet waren die Arbeiten von Ericksen zur mathematischen Beschreibung von Fest-Fest-Phasenübergängen absolut prägend. Auf die daraus entwickelte Theorie bauen meine Forschungsarbeiten auf", erklärt Stefan Müller. "Daher empfinde ich den Preis als eine besondere Ehre und auch als Erfolg der jahrelangen, herausragenden Zusammenarbeit mit Michael Ortiz."
Michael Ortiz hatte bis Ende letzten Jahres einen sogenannten Bonn Research Chair inne und forschte in dieser Position jedes Jahr mehrere Monate in Bonn. Die Bonn Research Chairs vor knapp 10 Jahren vom Hausdorff Center for Mathematics nach dem Vorbild des Humboldt-Forschungspreises eingerichtet. Die so berufenen Wissenschaftler*innen haben die Möglichkeit und verpflichten sich zugleich, jedes Jahr eine Zeitlang - in der Regel sechs Monate - in Bonn zu forschen, in enger Zusammenarbeit mit fachnahen Kolleg*innen. Derzeit haben Veronique Gayrard (CNRS), Maria Gordina (University of Connecticut), Lillian Pierce (Duke University), Peter Schröder (Caltech) und Alexander Volberg (Michigan State University) solche Positionen in Bonn inne.
Der 2021 zum Gedenken an Jerald L. Ericksen gestiftete Preis wird alle fünf Jahre für die originelle Formulierung einer mathematischen Theorie zu einem bedeutenden wissenschaftlichen oder technischen Problem verliehen, die in den letzten fünfzehn Jahren vor der Verleihung veröffentlicht wurde. Mit dem Preis wird entweder eine Theorie ausgezeichnet, die eine neuartige Anwendung mathematischer Ideen ermöglicht, oder ein ungewöhnlicher Ansatz, der ganz neue Fragen in der Mathematik aufwirft. Der Namensgeber Jerald L. Ericksen ist insbesondere für seine Arbeiten aus den 1960er Jahren zur mathematischen Modellierung von Flüssigkristallen bekannt ("Leslie-Ericksen Theorie"), die letztendlich ein Wegbereiter für zahlreiche Anwendungen wie Flüssigkristallbildschirme (LCDs) waren. Sein Arbeitgebiet lag im Überschneidungsfeld von Physik, Mechanik, angewandter Mathematik und Ingenieurwissenschaften, einschließlich Materialwissenschaften. Der Jerald L. Ericksen-Preis ist mit rund 2.000 Dollar dotiert.