Der Europäische Mathematikerkongress findet alle vier Jahre statt, immer um zwei Jahre versetzt zum Internationalen Mathematikerkongress, auf dem die berühmte Fields-Medaille verliehen wird. „Es ist also ein bisschen so wie bei der WM und EM im Fußball“, erklärt Jessica Fintzen. Während die Fieldsmedaille an Mathematiker*innen unter 40 Jahren weltweit vergeben wird, liegt die Altersgrenze beim EMS-Preis bei 35 Jahren. Ausgezeichnet werden können alle Mathematiker*innen, die eine europäische Staatsangehörigkeit haben oder aber derzeit in Europa forschen. In einem gewissen Sinne kann also der EMS-Preis als „kleine Fields-Medaille“ bezeichnet werden, zumal bereits 11 Preisträger*innen (darunter der Bonner Peter Scholze) später dann auch tatsächlich diesen weltweit bekanntesten Preis in der Mathematik erhielten.
Jessica Fintzen wird geehrt für „ihre bahnbrechenden Arbeiten über die Darstellungstheorie p-adischer Gruppen“. In diesem Grenzgebiet zwischen Zahlentheorie und Darstellungstheorie gilt sie als eine der führenden Mathematikerinnen weltweit und wurde bereits mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet. Anfang dieses Jahres erhielt sie den Frank Nelson Cole Prize in Algebra und im Jahr 2022 den Whitehead Prize der London Mathematical Society. Vor kurzem bekam sie eine Medaille für den Cours Peccot des Collège de France. „Preise sind für mich vor allem ein Ansporn. Ein Ansporn dafür, die mathematische Forschung voranzubringen. Ich schaue immer nach vorne; es gibt noch viel zu tun“, so Jessica Fintzen. „Dieser Preis ist etwas Besonderes für mich, weil er quer durch alle mathematischen Disziplinen vergeben wird.“ Das Preisgeld von 5.000 Euro spielt für sie dabei eine eher untergeordnete Rolle.
Das Forschungsgebiet von Jessica Fintzen ist in der reinen Mathematik angesiedelt und handelt von Gruppen und sogenannten p-adischen Zahlen. Gruppen sind Mengen, deren Elemente miteinander verknüpft werden können, so dass gewisse Regeln gelten wie beispielsweise das Assoziativgesetz. Ein Beispiel für eine Gruppe ist die Symmetriegruppe eines Würfels, die alle Operationen enthält, die den Würfel invariant lassen. In der Darstellungstheorie beschreibt man Gruppen als Matrizen, also als lineare Abbildungen zwischen Vektorräumen, die man mathematisch sehr gut versteht. Geht man vom Körper der rationalen Zahlen aus, kann man diesen auf verschiedene Arten zu größeren Körpern erweitern und vervollständigen. Eine sehr bekannte Art dies zu tun, ergibt den aus der Schule bekannten Körper der reellen Zahlen. Eine andere Möglichkeit führt für jede Primzahl p zu den sogenannten p-adische Zahlen. In der Forschung von Jessica Fintzen geht es darum, über diesen Körpern der p-adischen Zahlen Gruppen mit Hilfe von Matrizen zu beschreiben, sie “darzustellen”. Die Menge der Gruppen über allen p-adischen Zahlen kann man sich bildlich als großen Ozean vorstellen, wobei jede Primzahl p für eine bestimmte Stelle im Ozean steht und dort eine unendliche Kette von Gruppen tief in den Ozean hineinragt. In neueren Arbeiten ist es nun Jessica Fintzen gemeinsam mit anderen Wissenschaftlern aus der ganzen Welt gelungen, alles aus der unendlichen Tiefe dieses Ozeans auf die Oberfläche zurückzuführen, in der sich die allgemeinen linearen Gruppen über endlichen Körpern befinden, die man bereits sehr gut kennt. Diese „Tiefe-Null-Darstellung“ von p-adischen Gruppen hat großen Einfluss auf das bekannte Langlands-Programm, in dem weitreichende Vermutungen aufgestellt werden, die die Zahlentheorie und die Darstellungstheorie von Gruppen miteinander verknüpfen, und das als eines der bedeutendsten mathematischen Programme überhaupt gilt.
Zur Person
Jessica Fintzen erwarb zwei Bachelor-Abschlüsse in Mathematik und Physik an der internationalen Jacobs University Bremen, bevor sie ihren Doktortitel an der Harvard University verliehen bekam. Nach Stellen als Postdoktorandin an der University of Michigan, dem Institute for Advanced Study in Princeton und dem Trinity College in Cambridge wurde sie Dozentin und Royal Society University Research Fellow an der University of Cambridge sowie Assistenzprofessorin und später ordentliche Professorin an der Duke University. Im Jahr 2022 trat sie eine Professur an der Universität Bonn an und ist seitdem Mitglied des Bonner Exzellenzclusters Hausdorff Center for Mathematics.
Zum Preis
Die EMS-Preise wurden 1992 eingeführt. Bei jeder ECM werden bis zu zehn EMS-Preise an Forscher*innen, die zum Zeitpunkt der Nominierung nicht älter als 35 Jahre sind und die die europäische Staatsangehörigkeit besitzen oder in Europa arbeiten, in Anerkennung hervorragender Beiträge in der Mathematik verliehen. Als Europa gilt der Zusammenschluss aller Länder oder Teile von Ländern, die geografisch in Europa liegen oder in denen ein korporatives Mitglied der EMS seinen Sitz hat. In gewissen (in der Regel familiär und gesundheitlich bedingten) Fällen kann die Obergrenze bis zum Alter von 38 Jahren verlängert werden.